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Titel
Kindersegen. Der Geburtenrückgang als soziokulturelle Herausforderung für Gesellschaft und Protestantismus (1949–1989)


Autor(en)
Heidrich, Marius
Reihe
Religion in der Bundesrepublik Deutschland
Erschienen
Tübingen 2022: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XI, 483 S.
Preis
€ 94,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katerina Piro, Wirtschaftsgeschichte, Universität Mannheim

Marius Heidrichs an der Universität Erfurt verfasste Dissertation, die im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe 1765 „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989“ entstand, verfolgt den Wandel von gesellschaftlichen Diskursen rund um Bevölkerung, Familie, Ehe und Elternschaft. Hierzu hat Heidrich protestantische Lebensläufe nachgezeichnet und eine Vielzahl an Schriftquellen ausgewertet, darunter kirchennahe Zeitschriften, Tagungsprotokolle evangelischer Symposien und Lehrgänge sowie Briefwechsel evangelischer Funktionäre und Funktionärinnen untereinander und mit politischen Entscheidungsträgern. Dabei untersucht er „ein Themengeflecht aus Religion, Wissenschaft, Politik, Migration, Geschlecht, Sexualität im Hinblick auf demographische Ordnungsdiskurse“ (S. 46). Er sucht dabei nicht die eine protestantische Leitmeinung, sondern Positionierungen einzelner einflussreicher Protestanten und Protestantinnen auf Basis ihrer konfessionellen Zugehörigkeit oder in Bezug auf die berufliche Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche und ihrer diversen Organisationen (Verbände, Medien, karitative oder beratende Institutionen).

Das erste inhaltliche Kapitel (II) befasst sich schwerpunktmäßig mit den 1950er- und 1960er-Jahren. Heidrich zeigt inhaltliche wie personale NS-Kontinuitäten von Protestanten in Bevölkerungswissenschaft und Politik auf. Zunächst hielt sich unter ihnen der Gedanke, der Staat solle Größe und Zusammensetzung der Bevölkerung, bzw. der Familien, beeinflussen, doch im Zeitverlauf wurde der Einfluss der Bevölkerungswissenschaftler kleiner. Auch in späteren Kapiteln zeigt Heidrich Kontinuitäten von im NS geprägten Denksystemen. Tiefergehende personale Belastungen bestanden wohl nicht, außer in bereits bekannten Fällen wie bei Hans Harmsen, NS-Eugeniker und späterer Leiter von pro familia.1

Das folgende Kapitel (III) zeichnet eine Übersicht der politischen und gesellschaftlichen Debatten rund um die Familie in Bezug auf die Familienpolitik zwischen den 1950er- bis 1980er-Jahren und den protestantischen Meinungen zu diesen. Heidrich bündelt die Diskurse chronologisch in fünf Themenfelder und beginnt mit der sogenannten „Krise der Familie“. Diese war ein sehr wirkmächtiger Diskurs, unter dem sich eine starke familienpolitische Lobby, insbesondere auch aus Kirchenkreisen, gründete. Für die nachfolgenden Jahrzehnte zeichnet Heidrich die prägenden Diskurse über den Geburteneinbruch, Sexualität und Frauenfrage nach und schließt mit dem Generationenvertrag und der Krise der Rentenversicherung in den 1980er-Jahren. Heidrich konstatiert ein „fortwährende[s] Suche[n] nach angemessenen Sozialethiken“ bei den protestantischen Akteuren (S. 217), und findet den roten Faden beim Ruf nach einer „verantwortlichen Gesellschaft“ (S. 209).

Kapitel IV blickt schwerpunktmäßig auf die familienrelevanten Veränderungen der 1960er- bis 1980er-Jahre, insbesondere aus Sicht von in der Kirche aktiven oder evangelischen Frauen, die Feministinnen wie Alice Schwarzer auf ihre Konferenzen einluden oder deren Schriften publizierten und diskutierten. In diesem Kapitel behandelt Heidrich auch den Wandel des Verständnisses der Schöpfungsgeschichte vor dem Hintergrund neuer Geschlechterordnungen. Er zeigt, dass frauenbewegte Stimmen auch in kirchennahen Milieus seit den 1960er-Jahren immer lauter wurden und doch in ihren Forderungen die Mann-Frau-Dichotomie eher verstärkten und am Familienleitbild, das Frau und Mütterlichkeit zusammen dachte, kaum rüttelten. Sarah Jäger nannte es die „Revolution auf leisen Sohlen“.2

Ein Kind-zentriertes Kapitel (V) rundet die Studie ab und fasst den Wandel der Wahrnehmung des Kindes vom Humankapital zum „priceless child“ zusammen.3 Dies galt jedoch lange nicht für alle Kinder. Heidrich erkennt den Nachhall rassistischen und exkludierenden Denkens in der Behandlung von schwarzen Besatzungskindern – auch durch protestantische Akteurinnen. Sie waren beteiligt an Auslandsadoptionsprogrammen oder an separierenden Kinderheimen. Erst die 1980er-Jahre waren tolerantere Jahre: „Ausländerkinder“, insbesondere aus Gastarbeiterfamilien, sollten nun besser integriert werden, um soziale Probleme zu verringern.

Für alle Diskurse hat Heidrich protestantische Personen gefunden, die an den Debatten beteiligt waren, Projekte wie die Müttergenesung oder Familienberatung vorantrieben oder Einfluss auf die Politik zu nehmen versuchten. An manchen Stellen bleiben die protestantischen Bezüge tatsächlich recht vage oder lediglich auf Einzelpersonen bezogen. Eines der zentralen Ergebnisse der Untersuchung ist jedoch, dass die Positionierungen von katholischen und evangelischen Menschen im Zeitverlauf oft sehr ähnlich waren. Die gesellschaftlichen Diskussionen über Schwangerschaftsabbrüche, wo konfessionelle Unterschiede deutlicher gewesen wären, spart Heidrich bewusst aus und verweist auf bereits vorhandene Forschung zur dieser Debatte aus protestantischer Sicht.4

Schwierig sind zuweilen die chronologischen wie inhaltlichen Sprünge, die Titel bzw. Zwischentitel sind sperrig und kaum erläuternd (bei der Orientierung hilft das Personen- und Sachregister). Auch deshalb bleibt das titelgebende Thema, der „Kindersegen“, unterbelichtet. Heidrich entwirft einen demographischen Krisendiskursbogen von Thomas Malthus bis in die 1980er-Jahre, als Waldsterben, Atom-GAU und der Ost-West-Konflikt für Verunsicherung auch in Bezug auf Fertilitätsentscheidungen sorgten. Eine Umdeutung der Schöpfungsgeschichte hin zu einer offeneren Schöpfungsethik glich letztendlich einem Ruf nach Verantwortlichkeit auch in persönlichen Familienentscheidungen. Diese Erkenntnis ist allerdings nicht neu; hier hätte ein Blick in den Rückspiegel über die NS-Zeit hinaus gezeigt, dass schon im Kaiserreich protestantische Pfarrer weniger Kinder empfahlen – aus gesundheitlichen, emanzipatorischen ebenso wie aus ökonomischen Erwägungen.5

Trotz großer Bedachtheit auf gendersensible Sprache und Forschung fällt auf, dass lediglich bei den genannten protestantischen Frauen ihr ehelicher Status und die Kinderzahl genannt werden, sowohl im Text als auch in den am Schluss aufgeführten „Biogrammen“. Die männlichen Protagonisten werden weder als Ehemänner noch als Familienväter dargestellt, sondern als fachliche Experten. Eine akteurszentrierte Perspektive auf die Einstellungen und Familienpraktiken der untersuchten protestantischen Personen wäre sicherlich interessant gewesen, dann jedoch für beide Geschlechter gleichermaßen.6

Marius Heidrichs Buch reiht sich, trotz einiger Mankos, ein in die familienfokussierten Forschungen vergangener Jahre, und passt genau zwischen Mark Jakobs Buch über die Bonner Familienpolitik und Sarah Jägers Arbeit zum Wandel von protestantischen Geschlechterdiskursen – insbesondere aufgrund der Verzahnung beider Themen über den gesamten Zeitraum der deutschen Teilung hinweg.7 Es lässt weiterhin genügend Raum für ergänzende und weiterführende Studien.

Anmerkungen:
1 Das Literaturverzeichnis ist stellenweise lückenhaft: Auf Sabine Schleiermachers Buch zu Harmsen wird zwar hingewiesen (S. 354), im Verzeichnis werden lediglich Aufsätze von ihr genannt. Siehe: Sabine Schleiermacher, Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassenhygiene. Der Mediziner Hans Harmsen im Centralausschuß für die Innere Mission, Husum 1998.
2 Sarah Jäger, Bundesdeutscher Protestantismus und Geschlechterdiskurse 1949–1971. Eine Revolution auf leisen Sohlen, Tübingen 2019.
3 Vivana A. Zelizer, Pricing the priceless child. The changing social value of children, New York 1985; siehe auch: Martina Winkler, Kindheitsgeschichte, Göttingen 2017.
4 Simone Mantei, Nein und Ja zur Abtreibung. Die evangelische Kirche in der Reformdebatte um §218 StGB, Göttingen 2004.
5 Vgl. Katerina Piro, Bewusste Familienplanung 1900. Generatives Verhalten von Pfarrehepaaren in Ego-Dokumenten, in: Anne Conrad (Hrsg.), Spannungen. Religiöse Praxis und Theologie in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, St. Ingbert 2019, S. 235–278; Christiane Dienel, Kinderzahl und Staatsräson. Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, Münster 1995, S. 102–116.
6 Zu früheren Epochen sind insbesondere Pfarrehepaare, die eine wichtige Schnittstelle zwischen Kirche und Laien darstellen, untersucht worden, vgl. Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Württemberg 17. bis 19. Jahrhundert, Göttingen 2005; Oliver Janz, Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850–1914, Berlin 1994; Piro, Bewusste Familienplanung 1900.
7 Mark Jakob, Familienbilder. Sozialer Wandel, Wissenschaft und Familienpolitik in der BRD, 1954–1982, Wiesbaden 2019; Jäger, Protestantismus und Geschlechterdiskurse. Siehe auch: Christiane Kuller, Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949–1975, München 2004. Mit dezidierten Bezügen zur Religion: Sabine Plonz, Wirklichkeit der Familie und protestantischer Diskurs. Ethik im Kontext von Re-Produktionsverhältnissen, Geschlechterkultur und Moralregime, Baden-Baden 2018; Claudia Lepp / Harry Oelke / Detlef Pollack (Hrsg.), Religion und Lebensführung im Umbruch der langen 1960er-Jahre, Göttingen 2016.

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